Grenzland-Galerie

Edi Mann   Kunst & Schrift



Struktur & Erscheinung

Eine Kunstphilosophische Betrachtung


Die Frage, was es mit unserer Wirklichkeit auf sich hat, war der Auslöser für das Kunstprojekt „Struktur & Erscheinung“.
Dass die uns erscheinende Wirklichkeit nur eine scheinbare ist, haben schon vor Jahrhunderten die Mystiker und Weisen auf der ganzen Welt behauptet und in ihren Schriften überliefert. Bei den Hindus wird diese Wirklichkeit von Maya, der Göttin der Illusion hervorgebracht. Im Buddhismus wird die uns erscheinende Realität letztlich als eine Projektion betrachtet.
Auch in der Philosophie hat diese Denkrichtung eine lange Tradition. Angefangen bei Plato im alten Griechenland über Kant, Schopenhauer bis Hegel. Sie vertraten die Meinung, dass unsere Wahrnehmung der Dinge und der Welt eine andere ist als das Ding an sich. Wir erleben die Welt nicht direkt. Mittels unserer Sinne erfassen wir Informationen, die das Gehirn dann in das umsetzt, was wir Realität nennen. Demnach gibt es überhaupt keine objektive Realität. Was wir dafür halten ist nur eine subjektive Wahrnehmung von... was auch immer.


"Maya"

Acryl auf Holz  68 x 98



In unseren moderneren Zeiten übernahm die Wissenschaft den Job der Welterklärung und kam zu derselben Erkenntnis. Hans Peter Dürr, Quantenphysiker und Direktor des Heisenberg-Instituts, drückt es so aus: „Ich habe als Physiker mein ganzes Forscherleben damit verbracht zu fragen, was eigentlich hinter der Materie steht. Wenn wir die Materie immer weiter auseinandernehmen, bleibt am Ende nichts mehr übrig, was an Materie erinnert. Ich habe somit 50 Jahre an etwas gearbeitet, was es nicht gibt.“ Die sogenannte Materie löst sich beim immer tieferen Eindringen und teilen in Energiewirbel auf.

Egal, ob man wie die Wissenschaftler die letztendliche Wirklichkeit im Außen sucht oder wie die Mystiker im Innern, man kommt auf dasselbe Ergebnis: Materie an sich existiert nicht, im Grunde ist alles Energie. Wir leben in einer energetischen Welt, in der Erscheinung geschieht.

Diese aller Erscheinung zugrunde liegende Energie ist für mich die Struktur. Demgegenüber ist das, was wir mit unseren 6 Sinnen wahrnehmen, die Erscheinung. Womit wir beim Thema und dem Namen dieses Kunstprojekts wären: 

„Struktur & Erscheinung“.



Was beinhaltet die Struktur, die ja materiell gesehen „Nichts“ ist? Sie besteht aus Informationen, Möglichkeiten und Impulsen. Unser Geist greift die Impulse auf und konstruiert aus den Informationen ein Bild, was die Erscheinungswelt vor unseren Augen entstehen lässt. Das Innere äußert sich. Die Struktur äußert sich als Erscheinung.





So gut wie immer liegt unsere Aufmerksamkeit auf der Erscheinung, die uns geradezu hypnotisiert. Wir haben uns so daran gewöhnt, nur auf die Erscheinungen zu achten, dass die Welt für uns aus einem Gefüge lauter Einzeldinge zu bestehen scheint. Die alles verbindende Struktur bleibt der Wahrnehmung dabei verborgen.
Doch wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Struktur legen, ändert sich die Wahrnehmung. Überall entdecken wir Strukturen und bemerken, dass alles miteinander in Verbindung ist.
Diese Fähigkeit der Aufmerksamkeit, aus der Struktur eine Erscheinung zu generieren, ist ein aktiver und kreativer Akt. Es ist die Kreativität, die uns allen zu eigen ist und uns zu Mitschöpfern unserer wahrgenommenen Welt macht. Alle Wesen konstruieren mittels ihrer Wahrnehmung ihre Erscheinungswelt. Beim Menschen kommt dank seines Verstandes noch etwas spezielles hinzu: Eine Interpretation des Wahrgenommenen. Wir machen aus der Struktur eine Kon-struktion, ein Konstrukt.





Nach dieser theoretisch-philosophischen Einleitung jetzt zum praktischen Teil:

Als Künstler arbeite ich bei diesem Projekt bewusst mit der Struktur. Sie erschien mir in den ausgedienten Holzpaletten, die nach einem langen Weg um die halbe Welt gereist hier im Grenzland gestrandet sind. Vormals im Inneren eines Baumes verborgen, jetzt sichtbar in den Brettern erscheinend. Als Metapher scheint mir dies gut geeignet.

Gezeichnet von ihrer weiten Reise liegen sie vor mir. Macken und Risse zeugen von einem ereignisreichen Leben. Schleifpapier befreit sie von Schmutz und Ablagerungen, worauf sie bereit sind, ihr inneres Geheimnis zu offenbaren. Deutlich ist sie nun zu erkennen, die Struktur, fließend, mäandernd. Zeit- und raumlosen Energieflüssen gleich, sich trennend und wieder zusammenfindend. Welche Information ist in diesem Stück Struktur enthalten? Welche Impulse, welche Möglichkeiten?




Bei der weiteren Beobachtung bringt die Aufmerksamkeit Bilder hervor und Erscheinung geschieht. Aus der Struktur heraus offenbart sich die Erscheinung, schwach, fließend, sich immer wieder verändernd. Es gilt, den Fluss der Struktur zu finden, eins werden mit ihm, damit das Bild erscheinen kann.
Die Kreativität bringt die Erscheinung hervor.
Jetzt kommt der mentale Akt der Interpretation hinzu, der etwas eigenes aus der Struktur macht. Der Verstand gibt dem Erscheinenden Bedeutung, indem er es mit ähnlichem oder schon Bekannten in Verbindung bringt. In diesem Sinne ist die Struktur ein Angebot, aus dem wir etwas machen.
Für mich als Künstler beginnt jetzt der praktische Teil, das Fixieren des Wahrgenommenen auf dem Grund, auf der Struktur. Das Bild entsteht, erwacht zur Wirklichkeit. Die Erscheinung ist zu einer Wirklichkeit geworden.





Diese Bilder sind somit Interpretationen von Informationen, die in der Struktur enthalten sind. Nur in meiner Erscheinungswelt erwachen sie zur Realität. Und auch in eurer, wenn ihr eure Aufmerksamkeit darauf richtet.

Die Werke laden dazu ein, die Wahrnehmung spielen zu lassen. Haltet Ausschau nach der Struktur, entdeckt wie sie mit der Erscheinung in Verbindung steht, wie die Erscheinung der Struktur folgt. Das Entscheidende ist immer die Aufmerksamkeit. Worauf liegt sie? Wie erscheint euch die Welt?

Lasst die Bilder eine Wirkung entfalten. Eine Wirkung in eurer Wirklichkeit. Denn vielleicht ist das alles was wir haben... eigene individuelle Wirklichkeiten.