Grenzland Advaita

Edi Mann   Kunst & Schrift


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Ich bin der Phönix.

Mein Erscheinen geschieht, wie das Erscheinen von Allem, aus der Zeitlosigkeit des archaischen Urbewusstseins heraus, welches direkt vom Adler, dem Ursprung allen Seins, ausgeht. Es begründet die Initialzündung der außergewöhnlichen Entwicklungsgeschichte eines Hominiden, genannt Mensch. Ebenso ist es der Startpunkt einer Bewusstseinsentwicklung, die von mir, dem Phönix als Abgesandter des Adlers, der Menschheit ermöglicht wird. Denn Ich, der Sohn des Adlers, vertrete meinen Vater hier auf der Erde mit dem Auftrag, die Menschheit mit einem Bewusstsein auszustatten, sie also mit dem Adlerbewusstsein zu verbinden. Denn es gibt nur dieses eine Bewusstsein.

Meine Zeit beginnt, als schließlich das siebte Ei der Möglichkeiten, welche der Adler auf der Erde ablegte um dort das Spiel seiner Schöpfung zu initiieren, zerbricht und der Mensch das Licht der Welt erblickt. Grün ist meine Farbe, da ich eng mit dem Element Erde in Verbindung stehe. Das im Grunde nicht vorhandene Bewusstsein des Menschen ist bei meinem Erscheinen wie eine leere Leinwand, die erwartungsvoll auf archaischem Grund steht. Da hat der alte Herr schon gute Vorarbeit geleistet und ich kann mich gleich ans Werk machen. Meine primäre Aufgabe wird sein, diesem archaischen Menschen seine Außenwelt bewusst zu machen und sie auf seiner noch weißen inneren Leinwand abzubilden.

Allzu viele Freiheiten sind mir in dieser Anfangsphase nicht erlaubt, da ich selbst noch fest an das archaische Adlerbewusstsein gebunden bin, so dass man kaum zwischen mir, dem Strukturgeber, und dem Bewusstsein des Adlers selbst unterscheiden kann. Doch bin ich zuversichtlich, mich selbst mit der Größe meiner Aufgabe zu entwickeln.





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Der Zeitraum meines Wirkens auf der Erde wird als die Epoche des magischen Bewusstseins bezeichnet. Dieses Bewusstsein liegt noch nicht im Menschen selbst, sondern ruht in der Welt. Von dort strömt es in ihn ein und leitet ihn. Für die reibungslose Übertragung und Strukturierung bin ich zuständig, es ist die Aufgabe, die mir vom Adler übertragen wurde. Denn ich bin der Phönix, die vermittelnde Bewusstseinsstruktur.

Äußerlich selbständig erscheinend, doch innerlich ganz vom Bewusstsein des Adlers erfüllt und geleitet, beginnt der Mensch die Welt zu erobern. Homo Sapiens Erectus, nicht der Schnellste, nicht der Größte und sicherlich nicht der Stärkste unter all den sich auf der Erde tummelnden Kreaturen. Eigentlich ziemlich ungeeignet, um im Wechselspiel der Evolution lange von Bestand zu sein. Doch Dank meiner Intervention entwickelt sich eine mehr oder weniger verborgene Fähigkeit, die ihm eine zentrale Rolle im großen Weltgefüge zuschreiben wird. Er ist höchst lern- und anpassungsfähig, weshalb auch ausgerechnet der Mensch für diese Mission auserwählt wurde.

Geführt von mir, der unfehlbaren Bewusstseinsstruktur des Adlers, ist dem Menschen wie im Paradies zumute. Die leitende Stimme in seinem Kopf macht ihn mit den äußeren Kräften bekannt und animiert ihn, seine eigenen Kräfte zu entwickeln um darauf zu reagieren. Diese Stimme, natürlich ist sie die meinige, trifft alle notwendigen Entscheidungen, schweigt, wenn sie nicht benötigt wird und lässt ihm genügend Freiraum zu seiner Entwicklung. Es ist ein leichtes und natürliches Leben für ihn, denn ohne „eigenes“ Bewusstsein gibt es weder Zweifel noch Skrupel, weder Unrecht noch Schuld. Alles ist so wie es sein soll, der Mensch kritiklos und im Einklang mit allem.




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Dann, mittlerweile alt an Jahren, beschließt der Adler, das Spielfeld nun ganz seinem Repräsentanten, also mir, zu überlassen und sich aufs Altenteil zurückzuziehen.

Ich habe dem Menschen mittlerweile die Tür zu seiner Außenwelt geöffnet, habe ihn von der Natur getrennt um sie ihm bewusst zu machen. Das Ganze hat dazu geführt, dass im Menschen der Glaube entstand, alle Dinge, ja die ganze Welt, wäre nur für ihn gemacht. Er lässt zunehmend das Verlangen erkennen, unabhängig von der Welt zu sein. Und es lässt sich kaum noch die Tatsache verleugnen, dass er im Begriff steht, einen eigenen Willen zu entwickeln. Als Folge davon sieht er sich nun einer potentiell feindlich gesinnten Welt gegenüber. Das Paradies zeigt seine ersten Risse, die sich immer beschwerlicher kaschieren lassen. Doch sehe ich dies eher als Erfolg denn als ein Scheitern meiner Mission an. Immerhin hat der Mensch einen gewaltigen Entwicklungsschub hinter sich gebracht. 

Jetzt ist es wohl an der Zeit, ihn seine Eigenständigkeit zu lehren, ihm seine Innenwelt bewusst zu machen. Dieser Bewusstseinssprung ist allerdings so groß, dass auch ich mich einer Neuwerdung unterziehen muss. Meine Zeit scheint abgelaufen, die Zeichen deuten auf Wandel.

Mir ist klar, was zu tun ist. In einem letzten Kraftakt raffe ich noch einmal all meine Energie zusammen, baue ein Nest und lege ein Ei hinein, um mich anschließend dem Schicksal zu überlassen, indem ich mich selbst entzünde und verbrenne. Ein würdevoller Abschied, doch als Phönix weiß ich um meine Unsterblichkeit und ahne bereits die blaue Feder der Erneuerung am Horizont.




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Als blauer Phönix führe ich das weiter, was in der magischen Phase zum Programm geworden ist: Das Herauslösen des Menschen aus seiner Naturverflochtenheit hin zu seiner Selbständigkeit. Es ist eine heikle Phase, in die ich mich da stürzen muss, der Mensch ist aus seiner alten Heimat, der völligen Naturverbundenheit, herausgerissen und eine neue ist noch nicht in Sicht. Eine grosse Herausforderung liegt vor mir, doch ich bin zuversichtlich, dass meine Mission auch als erneuerter Phönix auf Kurs bleibt und erfolgreich verlaufen wird.

Meine in dieser Phase mythische Bewusstseinsstruktur ist gekennzeichnet durch das innere Schauen der Welt, aus dem die erst mündlich, später schriftlich überlieferten Mythen entstehen. Der Mythos, den ich in die Welt bringe, ist eine lebendige Kraft, die ständig neue Phänomene hervorbringt und zu einer Weiterentwicklung des Menschen führt. Denn ich öffne ihm das Tor zu seiner Innenwelt, zu seiner Psyche.

Aus den Götzen der magischen Stufe werden nun die Götter und Helden, die Himmel und Erde bevölkern. In ihrem Wirken gestaltet sich die Welt für den mythischen Menschen. Sie sind an Stelle der Kräfte getreten, die die Geschicke der Welt und sein Schicksal bestimmen. Aber in Wirklichkeit bin natürlich ich es, der Phönix, der ihnen durch meine Strukturierung in dieser Form erscheint.

Die Hervorbringung einer neuen Zeit- und Raumerfahrung erweitert den Handlungsspielraum des Menschen gewaltig und schafft neue Formen des sozialen Zusammenlebens. Der Mensch muss nun eine Rollenidentität in den neu entstandenen Gesellschaften annehmen, im Gegensatz zur bisher gültigen magischen Gruppenidentität. Um zu bestehen muss er seine Rolle in einer Gesellschaft anderer Rollen erkennen und erlernen.




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Der nun mit einem mythischem Bewusstsein ausgestattete Mensch hat endlich die Erkenntnis von Richtig und Falsch, von Gut und Böse. Er sieht sich selbst umgeben von Gegenpolen, im äußeren von polaren Erscheinungen wie Sommer und Winter oder Tag und Nacht, in seiner inneren Welt von Olymp und Hades, von Himmel und Hölle. Hier kann er sich einfügen und seinen Platz finden.

Dank meiner Unterstützung kann sich der Mensch nun das ihm vormals als magisch erschienene Weltgeschehen erklären. Erfreut beobachte ich, wie er sich ein komplexes System von Metaphern und Bildern schafft, die als Mythen bekannt und überliefert werden sollen. Er selbst fügt sich ein in diese Mythen und erlebt sie als seine Wirklichkeit.

Meine blaue Mission ist es, dem Menschen sein inneres Auge der Erkenntnis zu öffnen und ihn damit sehen zu lassen, wer er wirklich ist. Und so, wie er sich selbst erkennt, erkennt er auch sein Gegenüber, den oder das Andere. Dies ist nun erfüllt. Der Mensch ist endlich zu einer Persönlichkeit geworden.

Ich habe ihn zu einem Subjekt gemacht, das der Welt der Objekte gegenübersteht und sie bezeugen kann. Sie werden ihm fortan als getrennt von ihm bewusst, so dass der Auftrag des Adlers schon fast erledigt scheint. Denn es ist ja das Bewusstsein des Adlers, das an den Menschen verliehen und mit den Inhalten angereichert wieder zu ihm zurückfließt.

Die Polarität ist das wesentliche Kennzeichen dieser meiner blauen Phase, sie drückt den Dimensionsgewinn für den Menschen und damit den Fortschritt gegenüber dem Magischen am deutlichsten aus. Mittels seiner Innenschau träumt er die Bilder des Bewusstseins, die ich ihm zur Verfügung stelle und im Wachbewusstsein gibt er Zeugnis davon ab. Im Wechselspiel von Traum und Wachen wird der Mensch ein Erwachter.




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Mein Geschenk, das Selbstbewusstsein und die Erkenntnis von Gut und Böse, schlägt nun aber eine kaum noch zu überbrückende Kluft zwischen den Menschen und seine Welt. Sein Weltbild ist fortan von Trennung und Abgrenzung geprägt. Er ist zwar zu einem klaren Eigen-Sein erwacht, bleibt aber in die Weltkräfte eingebunden, die ihn ergänzen und ausgleichen. Ich habe den Himmel auf die Erde gebracht und die Erde zum Himmel erhoben.

Die mythologische Ursprünglichkeit ist mittlerweile in eine dogmatische Endlosschleife geraten, die ich mit meiner Struktur nicht überwinden kann. Der Mensch wird in seiner Rollenidentität festgehalten und kann nicht daraus entkommen. Die Fixierung auf den dogmatischen Mythos führt jetzt zu einem krassen Machtmissbrauch. Die Hüter des Mythos bestimmen was wahr ist und verteidigen ihn mit allen Mitteln. Ein starrer Fundamentalismus ist die Folge. Der mythische Mensch hat seinen Höhepunkt überschritten und ist in eine defiziente Phase geraten.

Der Traum beginnt sich in einen Alptraum zu wandeln und ich fühle, dass meine Zeit zuende gehen muss damit es für meine Schutzbefohlenen ein Weiter geben kann. So halte ich es wie mein Vorgänger und leite den unumgänglichen Erneuerungsprozess ein. Eine erneute Phönix- oder Bewusstseinsmutation ist unerlässlich.

Im Mythos selbst drückt sich das so aus, dass sich die Götter vor ihren Söhnen zu fürchten beginnen und mit einem letzten verzweifelten Kraftakt planen, sie zu vernichten:

Zeus, der ewige Herr der Götter und Sterblichen Menschen schaute hinab und erwog sinnenden Hauptes die Zukunft: „Drunten auf Erden walten unsere Söhne in unerträglichem Hochmut, die wir in Liebe gezeugt mit den herrlichen Weibern der Menschen. Rasender Stolz erhebt ihr Haupt, sie knechten die Erde, türmen Taten auf Taten und herrschen über die Völker fast so strahlend wie wir in ruchlos blendender Schönheit. Ihre Stunde versinkt, es kommen geringere Zeiten, leichter und freier jedoch. Nun weise beratende Wege, wie wir tränenlos die eigene Sippe vernichten.“ 



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Frei wie der Wind und gelb wie das Luftelement steige ich empor, um dem Menschen das mentale Bewusstsein und damit einhergehend die Vernunft zu überbringen. Auf dass sich sein Ich-Gefühl nun völlig von der Natur lösen und er ganz zu sich selbst erwachen werde. Nachdem ich ihm als grüner Phönix seine Aussenwelt und als blauer Phönix seine Innenwelt bewusst machte, ist nun die Zeit für die dritte Dimension gekommen, in der sich der Mensch nun selbst in seinem Umgebungsraum bewusst wird.

Meine Mission beginnt ziemlich problematisch, was bei einem solch radikalen Wechsel nicht anders zu erwarten ist. Denn kollektive Glaubenssysteme lassen sich offensichtlich nicht so einfach über Bord werfen, vor allem nicht, wenn sie, wie in den Mythen, eine festgefügte Grundlage haben. Wenn mir die Menschen nicht so am Herzen lägen würde ich ja viel radikaler vorgehen, um sie auf die richtige Spur zu setzen. So aber bin ich gezwungen, mir allerhand Tricks und Täuschungen einfallen zu lassen. Aber genau das ist ja mein wohl vertrautes Metier als gelber Phönix.

Nachdem sich mein Vorgänger bereits mit den Menschen vermählte und quasi mit ihnen verschmolz, kann ich mein Anliegen nun direkt aus ihnen heraus in Angriff nehmen. Das macht es natürlich einfacher für mich, denn der Mensch ist durch diese dauerhafte Verbindung schon fast zum Phönix-Menschen geworden.

Dieser macht sich nun, anfangs noch unbeholfen doch rasch Fahrt aufnehmend, unverzüglich ans Werk, die bewusst gewordenen inneren Räume zu erkunden und mit abstraktem Leben zu füllen. Dieser ortlose Ort der Gedankendinge nimmt bald ungeahnte Dimensionen an. Alles überragende Bauwerke, immer höher und bis in den Himmel hinein reichend, entstehen. Zuerst sind es nur Luftschlösser und Kartenhäuser, doch der Drang, sie in die Realität zu überführen, ist überwältigend. Denn der grenzenlos scheinende Möglichkeitsraum will und muss erobert werden. Es ist schließlich die Zeit der großen Entdeckungen und Erfindungen.

Zunehmend begeistert von ihrer neuen Gabe wird die natürliche Lebenswelt bald zum Ressourcenlager, aus dem man sich bedienen kann um den Ideenreichtum realisieren zu können. Den inneren Räumen wird bald mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der natürlichen Lebenswelt. Die Welt besteht fortan als Maß und Zahl, sie verliert dabei zwar an Bedeutung, gewinnt aber an Erklärung.



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Bei der Gestaltung des inneren und damit einhergehend des äußeren Raumes bleibt es natürlich nicht. Das selbst errichtete mentale Königreich will und muss auch bevölkert werden. Und das neu entdeckte Ich, in Gestalt des jeweiligen Menschen, ist natürlich und unausweichlich immer der Held und Alleinherrscher dieses Reiches. Das ist in dieser Phase notwendig, denn dem Menschen muss seine eigene Größe bewusst werden, da er schließlich nichts Geringeres als das Adlerbewusstsein beherbergen soll.
Über den Dingen stehend, auf den höchsten Terrassen des babylonischen Turms, kann man regieren, richten, zweifeln, glauben und noch viel mehr. Man ist aber nicht nur der Protagonist und Chronist seiner eigenen Geschichte, die im Leben erlebt wird und sich im neuen mentalen Bewusstsein abzeichnet, es lassen sich nunmehr auch Pläne und Ränke schmieden, in die Zukunft schauen und sogar Täuschungsmanöver ausführen. Denn mit der Vernunft schaffe ich einen Raum der Möglichkeiten, in dem die Bindung an das Offensichtliche, das Gegebene aufgehoben wird.

Das Ich des Menschen tritt nun klar differenziert von der Außenwelt und seiner Rolle darin hervor, denn ich arbeite am Aufbau einer ganz und gar abstrakten Ich-Identität. Beim Blick in den Spiegel offenbart sich meine ganze Herrlichkeit, die Einmaligkeit des Phönix-Menschen. Als Subjekt betrachte ich mich selbst und agiere auch mit mir selbst. Und ich bringe den Menschen dazu, sich selbst verstehen zu wollen.

Mit ihm selbst steht ihm nun ein Forschungsobjekt gegenüber, das ihn an seine Grenzen bringt. Das Subjekt versucht sich selbst zum Objekt zu machen. Immer tiefer dringt er ein auf der Suche nach seinem wahren Wesen, ganze Bibliotheken füllen sich mit Beschreibungen und Karten über das, was er in sich selbst vorfindet. Doch die torlose Schranke kann er nicht überwinden, der letztendliche Beobachter, der Adler, lässt sich nicht in die Karten schauen, er bleibt unauffindbar.




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Mit mir tritt der Mensch nun endgültig aus dem dämmerhaften mythischen Bewusstsein heraus in eine Welt, in der er das Maß aller Dinge ist. Die mythische Traumzeit ist durch das rationale Wachsein abgelöst. Vorstellungen ersetzen die Bilderwelt und anstelle der Erzählungen ist zielgerichtetes Denken getreten. Von nun an ist es die Selbsterkenntnis und eben dieses zielgerichtete Denken, das ihn leitet. Doch einen kleinen Haken hat die Erfolgsgeschichte: Da das mentale Denken immer objektbezogen ist, wird es zwangsläufig zur Ursache einer tiefen Spaltung. Es ist ein trennendes Denken, automatisch auf eine Dualität ausgerichtet. Der mentale Mensch sieht sich als Subjekt lauter Objekten gegenüber. Während sich im Mythischen die Polaritäten noch ausglichen gibt es nun ein ausschließendes Entweder-Oder.

Fortan gilt es, sich diese materielle Welt der Objekte anzueignen und bis ins Kleinste zu erforschen. Abstraktionen lösen die mythischen Bilder ab und werden selbst zu Göttern. Da der Mensch ein geprägtes Wesen ist gibt es für ihn, sich kaum erfolgreich aus den Klauen des Adlers befreit, nichts Wichtigeres, als sich seine eigenen Adler zu erschaffen. Jetzt formt sich der Mensch die Götter, nicht mehr die Götter den Menschen. Die Verhältnisse haben sich gewendet, was nicht nur von Vorteil ist und weitreichende Folgen hat. Diese neuen Götter sind die rationalen Bestandteile der wahrgenommenen Welt. Die Welt ist eine rational-wissenschaftliche geworden.

In der Zeitwahrnehmung tritt das am deutlichsten hervor: die Zeit wird nun nicht mehr länger als kreisend, sondern als linear ablaufend wahrgenommen. An die Stelle des immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrenden Kreises oder Rades tritt der Zeitpfeil. Die Zeit wird zu etwas messbarem und mit immer präziseren Uhren bestimmt. Der Mensch in seiner Verblendung unterwirft sich selbst dieser abstrakten Zeit und richtet sein ganzes Leben danach aus. Eine Folge davon ist, dass er sich zunehmend mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert sieht, was ihn schließlich in eine tiefe Sinnkrise stürzt. 

Und ich kann ihm da keine Hilfe bieten, da ich selbst die Ursache des Problems bin. Nur mehr eine Möglichkeit verbleibt mir, nämlich das Kreieren des Gedankens, dass die Lösung des Problems in der Eliminierung der Ursache liegt...




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Es ist natürlich nicht nur diese tiefe Sinnkrise des Menschen, die den gelben Phönix seinem Ende entgegen treibt. Eine weitere der nun offen zu Tage tretenden Unzulänglichkeiten ist der massive Identitätskonflikt. Seit sich der Mensch seiner eigenen Vergänglichkeit und Sterblichkeit bewusst geworden ist, hadert er mit seinem Schicksal. Er sieht sich mit dem aufkommenden Gefühl der Sinnlosigkeit seines Lebensmutes und Willens beraubt. Und mit seinem mentalen Bewusstsein hat er sich zudem fast vollständig von allem anderen abgetrennt.

Doch ich, der rote Feuerphönix, bin nicht hier um zu richten, sondern um Verbindungen zu schaffen. Allerdings hat sich der Schleier der Maya schon sehr dicht über die Sichtweise des Menschen gelegt. Meine Mission scheint ein hoffnungsloses Unterfangen, rüttelt sie doch an den Stützpfeilern dessen, was sich der Mensch, zugegebenerweise dank meiner Veranlassung, mühsam erkämpfte: Seine Eigenständigkeit.

Für den Menschen ist es immer schwierig, das erscheinende Neue in seinem Bewusstsein zu realisieren. Sieht es doch von seiner Stufe aus betrachtet meist überwirklich und übernatürlich aus, was es natürlich auch ist. Deshalb sträubt sich der Mensch auch es wahrzunehmen, oder er versucht, es der alten Struktur anzugleichen. Aber nur die Realisation meiner roten Struktur wird ihn befreien.

Mit ihr lasse ich ihn erkennen, dass nichts von seinem Wirken vergebens oder sinnlos ist. Alles ist aufgezeichnet in der Chronik der Vergänglichkeit, ihm als Vergangenheit geläufig. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, dieser Prozess des In-Erscheinung-Bringens. Und der Mensch erkennt sich nicht nur als Teil dieses Prozesses, sondern, ausgestattet mit dem Adlerbewusstsein, auch als seine Ursache. Er mag dasselbe wie vorher tun, doch nun sieht er die absolute Folgerichtigkeit und den Sinn in Allem.

Ich mache ihm bewusst, dass das Er-leben ein Speichervorgang ist und das Jetzt die Bühne, auf der alles geschieht. Das ewig währende Jetzt, die gewaltige Maschinerie, die die Zukunft in die Vergangenheit überführt.




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Ich bin erschienen, um die Wiederherstellung des ursprünglichen Einheitszustandes zu vollenden, allerdings unter Einbeziehung aller im Laufe der Zeit erschienenen Bewusstseinszustände. Mein alchimistisches Feuer der Erneuerung löscht die vergangenen Phönixe nicht aus, sondern integriert sie in meiner verbindenden Bewusstseinsstruktur.

Mit jedem Erscheinen eines neuen Phönix, also jeder Bewusstseinsmutation, erhält der Adler einen bewussteren Gegenwartscharakter im Menschen. Während die magische und die mythische Welt noch als unperspektivisch wahrgenommenen werden, wird mit dem mentalen Bewusstsein der Raum wahrgenommen, er wird perspektivisch. Mit meinem Erscheinen nun wird die Zeit überwunden und parallel dazu auch der Raum. Das integrale Bewusstsein löst die Perspektiven auf. Dazu muss der Mensch den Mut aufbringen, die Rationalität zu transzendieren, sie also zuerst einmal in Frage stellen. Das kann ihm gelingen, da er nun über sein eigenes Denken nachdenken kann.

Das integrale Bewusstsein überschreitet die rationale Eindeutigkeit und das dualistische Entweder-Oder. Es lässt die Welt als vielfältig strukturiert und komplex erscheinen, es öffnet die Augen für die vielen verschiedenen Wahrheiten, die gesehen werden und bezeugt werden wollen. Und es führt den Menschen in die Zeitlosigkeit, in der alle Zeitformen ihre Gültigkeit haben.

Meine Bewusstseinsstruktur integriert verschiedene Sichtweisen zur Formung eines ganzheitlichen Weltbildes. Erkenntnisse aller vorherigen Stufen werden wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Und es ist der Adler, der sich dieses Bild durch die Augen des Menschen betrachtet.



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Mit meiner Bewusstseinsstruktur ausgestattet ist ein neuer Typ Mensch in Erscheinung getreten. Die wahre Bedeutung der Adlergleichheit kann nun erkannt und gelebt werden. Ein neues Zeitalter ist angebrochen. Es ist das zeitlose Selbst, eine Emanation des Adlers, das aus der unmanifestierten Zukunft kommt, im Jetzt lebt und erlebt wird, und das in der Vergangenheit Zeugnis davon ablegt. So war es immer und so wird es auch immer sein. Der Kreis hat sich geschlossen ohne seinen Anfang erreicht zu haben, die Spirale des Lebens, die Wirklichkeit, hat sich eine Stufe höher geschraubt.

Der Mensch ist nun fähig, seinen angestammten Platz in der großen Holarchie des Seins einzunehmen, in der er ein Ganzes ist, aber auch Teil aller möglichen Ganzen.

Ich habe ihm den Weg zur Vielfältigkeit als auch den Weg zu der allumfassenden Einheit, beides Aspekte des Adlers, geöffnet. Die torlose Schranke ist verschwunden. Alleine die Sichtweise entscheidet darüber, auf welchem Weg man sich befindet. Auf dem Weg in die Welt hinein oder aus ihr heraus, auf dem Weg nach Außen oder nach Innen. Dass es nur ein Weg mit zwei Richtungen ist, dürfte kein Geheimnis mehr sein.
Ich habe mich vollständig mit dem Menschen verbunden, bin der rote Phönix-Mensch und finde mich auf diesem weglosen Weg, fähig in beide Richtungen zu blicken, beide Sichtweisen anzunehmen, sowohl in der Vielfalt als auch in der Einheit meine Heimat findend. Ich bin selbst zu diesem Weg geworden. Das Bewusstsein des Adlers fließt nun ungefiltert durch mich in den Menschen, lässt ihn erleben und bezeugen, um schließlich mit Erfahrungen angereichert wieder zum Adler zurückzufließen. Also genau wie beim magischen Menschen auch, nur ist sich der integrale Mensch dieses Vorganges nun bewusst.

Das kosmische Symphonieorchester spielt ein neues Lied und der Tanz des Lebens dreht sich zu einer weiteren Runde.